Brecht statt Biathlon
Sie hat gerade wenig Zeit. 15 Minuten vielleicht. Dann muss sie zum nächsten Termin. Adidas wartet. Es sind große Namen, die sich inzwischen für Julia Tannheimer interessieren. Das ZDF zeigte sie im Fernsehen, die Sportschau veröffentlichte eine lange Online-Reportage über sie, selbst auf Wikipedia hat sie nun einen Eintrag. Die Ulmerin ist berühmt geworden. In exakt 20 Minuten und 24 Sekunden.
Über diese Zeit wurde viel gesprochen. Niemand hatte mit ihr gerechnet. Nicht die Biathlon-Experten, nicht der deutsche Sportdirektor Felix Bitterling und schon gar nicht Tannheimer selbst. Die 18-Jährige vom DAV Ulm wollte bei ihrem ersten Weltcup-Auftritt Anfang Januar in Ruhpolding einfach nur mitlaufen. Dann wurde sie 15. im Sprint über 7,5 Kilometer – und war plötzlich potenzielle Nachfolgerin der deutschen Superstars Laura Dahlmeier und Magdalena Neuner. Was macht das mit einer 18-Jährigen? Einer jungen Frau, deren Alltag sich zwischen Biathlon-Training und Oberstufen-Klausuren bewegt?
Erstaunlich wenig. „Es ist alles beim Alten“, sagt Tannheimer. Dann lacht sie. Es ist das Tannheimer-Lachen, das man aus dem Fernsehen kennt. Viele finden es erfrischend. Die Ulmerin ist anders als die meisten ihrer Profi-Kollegen. Jünger, unerfahrener – und wahrscheinlich deswegen etwas authentischer. Im TV-Interview nach ihrem Weltcup-Coup gab sie zu, dass sie gerade nervöser sei als vor dem Rennen.
Tannheimer macht den Sport nicht für die Interviews oder die Aufmerksamkeit. Sie macht ihn, weil ihr Biathlon einfach Spaß bereitet. „Würde es mir kein Spaß machen, würde ich direkt aufhören.“ Deswegen stört es sie auch nicht, dass die Bühnen nun wieder kleiner sind. Sie liegen im Böhmerwald oder in Estland. Die Ulmerin ist zurück im zweitklassigen IBU-Cup und bereitet sich auf die Jugend-WM Ende Februar vor. Bei der Profi-WM in Nove Mesto ist sie nicht dabei. „Das war vor allem meine Entscheidung“, sagt sie.
Bundeswehr oder Zoll
Um diese Entscheidung zu verstehen, muss man sich mit dem Leben auseinandersetzen, das Tannheimer gerade führt. In dem geht es nicht immer nur um Biathlon. Manchmal geht es um Bertolt Brecht, manchmal um Integrale und Ableitungen. Tannheimer schreibt im April Abitur. Da kann sie nicht einfach so zwei Wochen fehlen.
Das geht nur in Ausnahmefällen. Wie die Jugend-WM in Estland, ihr Saisonhighlight. „Dort will ich unbedingt mitlaufen.“ Möglichst ohne viel Druck. Sieg oder Medaillen seien nicht ihr Ziel, meint sie. Sie will einfach mit ihren Rennen zufrieden sein. Es könnten ihre letzten im Jugendbereich werden.
Die Biathletin steht vor der Frage, die sich so viele 18-Jährige stellen: Wie geht es weiter in meinem Leben? Die kommenden Monate werden zeigen, ob Tannheimer im nächsten Winter zum Weltcup-Team gehört. Soweit denkt die Ulmerin aber noch gar nicht. Sie steht erstmal vor einer ganz anderen Entscheidung – Bundeswehr oder Zoll. Wohin will sie? Wo bekommt sie einen Platz im Athleten-Programm?
Es ist einer der Momente, in denen Tannheimer wie eine ganz normale Bald-Abiturientin wirkt. Wirklich viele gibt es davon nicht. Wenn ihre Bekannten im Winter Geburtstage und Partys feiern, ist die Ulmerin bei irgendeinem Wettkampf in Europa. „Manchmal denkt man sich, es wäre schon cool, da dabei zu sein.“ Aber dann denkt sie schnell wieder an etwas anderes. Zum Beispiel an dieses Traum-Wochenende in Ruhpolding. Daran, dass ihr Vater vorgeschlagen hatte, Oropax zu verwenden, um den Lärm am Schießstand auszublenden. Tannheimer entschied sich dagegen: Wenn Weltcup-Stimmung, dann richtig. Das Ergebnis: Kein einziger Fehler im Sprint. „Ich habe ein perfektes Rennen gemacht.“ In den nächsten Jahren sollen noch viele, viele weitere folgen.
Gemischte Gefühle im IBU-Cup
24 Minuten, 59 Sekunden – Julia Tannheimer hat beim IBU-Cup in Arber (Niederbayern) etwas länger für die 7,5 Kilometer gebraucht als noch in Ruhpolding. Die Zeit bedeutete Platz elf in dem Wettkampf, einen Tag später landete sie mit sechs Schießfehlern auf Platz 38. Das nächste IBU-Rennen findet erst Ende Februar statt. Tannheimer wird da dann schon voraussichtlich bei der Jugend-WM in Estland sein.
Südwest Presse Ulm / Christian Kern